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Kunterbunt statt bunt

Editorial der Ausgabe September 2020

Verehrte Leserinnen und Leser,

die Bundeshauptstadt Berlin sonnt sich gerne in Vielfalt und Buntheit. Solange es nicht in Kunterbuntheit im Sinne von Durcheinander und Gewalt ausartet und die Grundregeln menschlichen Umgangs eingehalten werden, muss man auch nichts einwenden. Johannes Boie, Chefredakteur der Welt am Sonntag, lebt in Berlin, „einer Stadt, in der ich, wenn ich einen Polizisten sehe, vor allem Mitleid habe.“ Es mag ihn ja ehren, wenn er mitleidet. Aber selbst in Berlin braucht die Polizei alles andere als Mitleid. Sie kann mit Selbstbewusstsein und der Gewissheit ihre Aufgaben erledigen, dass der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung und der Politik ihr hohen Respekt zollt (siehe auch Birkel et al.), genauso wie den vielen Rettungskräften, Sanitätern, Notärzten und Feuerwehrleuten. „Wer Rettungskräfte oder Polizisten angreift, greift uns als Gesellschaft an“, konstatiert der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul bei der Eröffnung einer Solidaritätskampagne für diese Berufsgruppen. Mitleid verdienen allerdings die Menschen, die mit ihrem Bashing derartige Aktionen erforderlich machen. Sein buntes Gesicht zeigte Berlin einmal mehr am letzten August-Wochenende, als eine kunterbunte Allianz aus Extremisten, Esoterikern, Verschwörungstheoretikern und sonstigen Coronaschutzgegnern mit Verstößen gegen Hygieneauflagen die Auflösung der eigenen Versammlung provozierte und sogar den Deutschen Bundestag stürmen wollte. Die bunte Kreativität erfasste auch den Berliner Gesetzgeber: Selten hat ein Landesgesetz über Berlin hinaus so viel Turbulenzen ausgelöst wie das dortige Antidiskriminierungsgesetz. Bernd Walter prüft, ob es nur umstritten oder eher überflüssig ist.

Mit Körperverletzung im Amt und der Frage, wie man sie wissenschaftlich untersuchen kann, befassen sich Laila Abdul-Rahman und Prof. Dr. Tobias Singelnstein. Offenkundig liegt die Problematik eines solchen Unterfangens im methodischen Vorgehen und in der wissenschaftlichen Validität, ganz zu schweigen von der anschließenden Bewertung und Einordnung. Im Aufsatz wird auf die hohe Einstellungs- und niedrige Anklagequote von zwei Prozent verwiesen und in der Welt am Sonntag vom 23.8. ergänzt der Autor, dass Beamte in solchen Verfahren nicht viel fürchten müssten. In einem einfach nur dreist-peinlichen Papier über die „Neuausrichtung der Polizei“ reduziert die Grüne Jugend diese Quote sogar auf nicht einmal ein Prozent und leitet daraus ab, dass Gewaltexzesse in Uniform de facto nicht geahndet würden. De facto kann man aber in einem Rechtsstaat nur ahnden, was beweisbar ist. Den Staatsanwaltschaften und den Gerichten damit unterschwellig zu unterstellen, sie drücke bei der Polizei die Augen zu, ist tendenziös und populistisch. Die hohe Einstellungs- und niedrige Anklagequote ist schlicht und einfach ein eindeutiger Beleg für das gesetzeskonforme Verhalten und die Integrität der Polizei! Die allermeisten Anzeigen nach § 170 II StPO werden als „offensichtlich unbegründet“ eingestellt. Schließlich gehört es mittlerweile nicht nur unter Extremisten zum leicht durchschaubaren Standardrepertoire, auf eine Anzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte mit einer „Gegenanzeige“ zu antworten, um die eigene Position zu verbessern und die Polizei einzuschüchtern.

Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen erschweren gerade eine Fokussierung auf die Kernthemen kriminalistischer Arbeit in Wissenschaft und Praxis, dem zentralen Anspruch unserer Fachzeitschrift. Die inhaltliche Vielfalt und hohe Qualität von Aufsätzen, die derzeit zahlreich bei der Redaktion eingehen, stimmen in schwierigen Zeiten hoffnungsvoll, auch wenn Corona uns noch über Jahre begleiten könnte.

Ihr
Bernd Fuchs
Chefredakteur


Verlag C.F. Müller

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