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Ausgabe Juni 2022

Juni 2022

Phänomenologie

Deutsch-Rap
Eine Inhaltsanalyse kriminogener Faktoren am Beispiel der Künstler „Kollegah“ und „Farid Bang“
Von Anonymus, Kriminalkommissarin beim Bundeskriminalamt

 

Russland-Ukraine-Krieg

Der Krieg in der Ukraine
Folgen für Deutschland und Europa/Teil 2:
Kriegsverbrechen, Flucht in die EU, wirtschaftliche Folgen
Von Stefan Goertz
(Teil 1 in Ausgabe 5/2022)

 

Muslimfeindlichkeit

Muslimfeindlichkeit in Deutschland
Nur ein Problem des rechten Randes?
Von Alexander Erdmann und Isa Ciftci

 

Gesellschaft und Kriminalität

Die Auswirkungen eines Stromblackouts auf Gesellschaft und Kriminalität
Von Uwe Füllgrabe

 

Kriminalprävention

Der 27. Deutsche Präventionstag ist seit März 2022 auf Sendung
Von Claudia Heinzelmann, Erich Marks und Margo Molkenbur
Das Programm des Präventionstages 2022 steht getrennt nach Monaten auf der Website des DPT als PDF-Download zur Verfügung.

 

Organisierte Kriminalität

Hic Sunt Dracones
Von Trygve Ben Holland, Sarah Holland, Arthur Hartmann und Gabriela Piontkowski
English Version (PDF-Download)

 

Tötungsvorsatz

Jagdunfall – Ein Jäger erschießt einen Jäger
Liegt damit ein bedingter Tötungsvorsatz vor?
Von Annette Marquardt

 

Spezialkräfte der Bundesbereitschaftspolizei

Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit Plus 
Die Spezialkräfte der Bundesbereitschaftspolizei
Von Christian Herrmann

 

Kriminalistik-Schweiz

Equal rights?
Über markante Geschlechtsunterschiede bei Opfern von Tötungsdelikten
Von Sabine Franckenberg, Raffael Golomingi, Michael J Thali und Lars C Ebert

Interdisziplinäre Beurteilung inkriminierter Bild-, Video und Audiodaten
Für die Identifizierung unbekannter Personen am Forensischen Institut Zürich (FOR)
Von Ralph Mülli

 

Kriminalistik-Campus

Untersuchung zur Grenzgeschwindigkeit von Glas
Von Jan Emanuel Martin und Roland Hoheisel-Gruler

Evaluierung der Straftatbestände des Menschenhandels, §§ 232 ff. StGB
Was sind die ungelösten Probleme – auch nach Anpassung der Straftatbestände – und kam es zu einer Verbesserung der Praxistauglichkeit?
Von Alexander Nielitz

 

 

Recht aktuell

Tatprovokation durch einen Verdeckten Ermittler

Rücktritt vom Mord bei mehreren Beteiligten

 

Literatur

Eine zuverlässige Handreichung
Schönenbroicher, Versammlungsgesetz Nordrhein-Westfalen

Überzeugende und an den Bedürfnissen von Theorie und Praxis orientierte Kommentierung
Kindhäuser/Hilgendorf, Strafgesetzbuch

 

Diskussion

Gendersprache im Alltag – Kampf dem Androzentrismus!
Von Axel Kühn

 

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Fachartikel

Deutsch-Rap
Eine Inhaltsanalyse kriminogener Faktoren am Beispiel der Künstler „Kollegah“ und „Farid Bang“
Von Anonymus, Kriminalkommissarin beim Bundeskriminalamt
Musik begegnet den Menschen tagtäglich in zahlreichen Situationen. Dabei spielt der Deutsch-Rap, welcher sich oft an der Spitze der Charts befindet, eine aufstrebende Rolle. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Fragestellung, welche Inhalte des Deutsch-Raps eine kriminogene Wirkung auf die Adoleszenzphase entfalten können. Dies wird mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse anhand der Musik der Künstler Kollegah und Farid Bang analysiert. Die Texte der Songs sind frei im Internet abrufbar. Dem vorliegenden Aufsatz liegt eine wesentlich umfangreichere Bachelorarbeit zugrunde, die sowohl von einer Kriminologin wie einer Sprachwissenschaftlerin betreut wurde.


Der Krieg in der Ukraine
Folgen für Deutschland und Europa/Teil 2: Kriegsverbrechen, Flucht in die EU, wirtschaftliche Folgen
Von Stefan Goertz
Dieser Beitrag ist Teil 2 einer Serie über den Krieg in der Ukraine und seine Folgen für Deutschland und Europa. Folgen auf den Ebenen Innere Sicherheit, Sicherheitspolitik in Form einer Überschneidung von Äußerer und Innerer Sicherheit, Flucht, Energiesicherheit und Wirtschaft mit potenziellen Konsequenzen wie Populismus, Radikalismus und Extremismus in Deutschland sowie eine potenziell neue Sicherheitspolitik Deutschlands und Europas. In diesem zweiten Teil werden einführend Kriegsverbrechen und die humanitäre Katstrophe in der Ukraine thematisiert, weil diese einen großen Einfluss auf die Flucht zahlreicher ukrainischer Staatsangehöriger haben. Die Flucht von Millionen von Ukrainern in die EU ist das Thema eines Hauptkapitels, gefolgt von den wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen gegen Russland für Deutschland und die EU. Abschließend werden Umfrageergebnisse in Bezug auf die deutsche Unterstützung für die Ukraine – von Anfang Mai 2022 – dargestellt.
(Teil 1 in Ausgabe 5/2022)


Muslimfeindlichkeit in Deutschland
Nur ein Problem des rechten Randes?
Von Alexander Erdmann und Isa Ciftci
„Die Würde des Menschen ist antastbar. Bedrohungen, Verletzungen oder Zerstörungen ihres Anrechts auf physische oder psychische Unversehrtheit gehören für Personen unterschiedlicher [...] religiöser Glaubenspraxis [...] zum alltäglichen Leben“1. Mit diesen Worten leitet Wilhelm Heitmeyer in die zehnjährige Forschungsreihe „Deutsche Zustände“ ein. Er spielt hiermit auf die in Artikel 1 des Grundgesetztes festgeschriebene Unantastbarkeit der Menschenwürde an, die sich der Staat verpflichtet zu schützen. Der Schutz der Menschenwürde findet auch in Artikel 3 des Grundgesetzes Ausdruck, in dem festgeschrieben wird, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und keiner u. a. aufgrund seiner religiösen Anschauungen, benachteiligt werden darf. Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert, dass die Menschen in Deutschland ihren Glauben frei wählen und ausüben dürfen. Der Staat hat somit eine grundgesetzlich festgeschriebene Pflicht, dafür zu sorgen, dass Menschen, die in Deutschland leben, ihre Religion praktizieren dürfen und nicht aufgrund dieser benachteiligt werden.


Die Auswirkungen eines Stromblackouts auf Gesellschaft und Kriminalität
Von Uwe Füllgrabe
Ein großflächiger und längerfristiger Stromausfall führt in unserer hochtechnisierten Gesellschaft zu erheblichen Konsequenzen. Viel zu wenig wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass durch technische Probleme, einen extremistischen/terroristischen Anschlag oder in Folge hybrider Kriegsführung ein längerfristiger Stromausfall ausgelöst werden kann. Beispiele für technische Probleme oder extremistische Anschläge können für die jüngere Vergangenheit belegt werden. So kam es in Berlin im April 2020, in München im Mai 2021 oder im Landkreis Oder-Spree ebenfalls im Mai 2021 zu Anschlägen mutmaßlich linker Gruppierungen wenn auch mit noch regional begrenzten Folgen. Hacker-Angriffe auf kritische Infrastrukturen und damit auf Einrichtungen der Energiewirtschaft sind mit Beginn des Russland-Ukraine-Krieges wahrscheinlicher geworden und stellen eine zunehmende Bedrohung dar. Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben wie die Polizei sind von solchen Szenarien doppelt betroffen. Zum einen werden sie erheblich in ihrer Aufgabenwahrnehmung beeinträchtigt, zum anderen in der Bewältigung der Folgen eines Stromausfalls zusätzlich gefordert und zur ausreichenden Vorsorge aufgerufen. Mit den möglichen Ursachen und Folgen eines großflächigen und längerfristigen Stromausfalls und der Frage, inwieweit ausreichende Vorsorge getroffen wird, setzt sich der nachfolgende Artikel auseinander.


Der 27. Deutsche Präventionstag ist seit März 2022 auf Sendung
Von Claudia Heinzelmann, Erich Marks und Margo Molkenbur
Wie wollen wir zukünftig die Vernetzung und den Informationsaustausch im Fachbereich der Gewalt- und Kriminalprävention gestalten? Sind große internationale Präsenzkongresse noch zeitgemäß? Zu der Frage nach adäquaten Formaten, die auch in Zeiten von Pandemien und Klimaschutzmaßnahmen tragfähig und sinnvoll sind, hat der Deutsche Präventionstag als Antwort ein neuartiges Kongresskonzept entwickelt.

Das Programm des Präventionstages 2022 steht getrennt nach Monaten auf der Website des DPT als PDF-Download zur Verfügung.


Hic Sunt Dracones
Von Trygve Ben Holland, Sarah Holland, Arthur Hartmann und Gabriela Piontkowski
Im Kontext eines gegenwärtig EU-geförderten ISF-Projektes (UNCHAINED) zum Menschenhandel und der organisierten Kriminalität mit Fokus Geldwäsche wurden Aspekte identifiziert, die thematisch für das Projekt zwar relevant sind, doch über den zulässigen Förderzweck hinaus gehen; daher wurden nachstehende Erkenntnisse durch gesondert durchgeführte Untersuchungen mit Unterstützung des Civic Institute to promote the Rule of Democracy CIRD e.V. (Stichtag 25.04.2022) gewonnen, insbesondere durch Nachforschungen und Gesprächen mit Vertretern der Strafverfolgungsbehörden vor Ort im karibischen Raum. Durch die besonderen Beziehungen assoziierter Überseeischer Länder und Gebiete (ÜLG) zur EU und ihren Mitgliedstaaten wird auch das Interesse hoch organisierter krimineller Akteure geweckt. Das Geschäftsmodell dieser Kriminellen Netzwerke umfasst mindestens sämtliche Straftaten im Sinne des Anhanges I der Europol-Verordnung und bezieht räumlich wenigstens die maßgeblichen süd- und lateinamerikanischen Akteure ein. Die Assoziierung dient als Einfallstor für vor allem auf Menschen- und Drogenhandel basierenden wirtschaftlichen Interessen in die EU hinein und bringt entsprechendes Marktverhalten in ihre Mitgliedstaaten (bspw. Bandenkriege, Mordanschläge auf investigative Journalisten).
English Version (PDF-Download)


Jagdunfall – Ein Jäger erschießt einen Jäger
Liegt damit ein bedingter Tötungsvorsatz vor?
Von Annette Marquardt
Jäger A erschießt bei äußerst schlechten Lichtverhältnissen versehentlich einen Mitjäger – wohl wissend, dass in diesem Revier mehrere Jäger die Jagd ausüben. Liegt ein bedingter Tötungsvorsatz vor? Reicht dafür aus, dass gegen Unfallverhütungsvorschriften besonders grob verstoßen wird? Was ist der Unterschied dolus directus 1. und 2 Grades und bedingtem Tötungsvorsatz?


Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit Plus
Die Spezialkräfte der Bundesbereitschaftspolizei
Von Christian Herrmann
Die BFE+ ist eine 2015 aufgestellte Einheit von Spezialkräften der Bundespolizei, die singulären Status besitzt. Sie stellt das Verbindungselement zur GSG 9 BPOL dar. Im vorliegenden Aufsatz wird die Genese der Einheit dargestellt. Es handelt sich dabei um eine Aufwuchseinheit, keinen stehenden Verband. Zudem wird die Organisation der BFE+ dargestellt und die Ausrüstung beleuchtet. Knapp werden bisherige Einsätze der Einheit dargestellt. Ein Fazit beleuchtet differenziert Aspekte der möglichen Weiterentwicklung der Einheit und schließt den Beitrag.


Equal rights?
Über markante Geschlechtsunterschiede bei Opfern von Tötungsdelikten
Von Sabine Franckenberg, Raffael Golomingi, Michael J Thali und Lars C Ebert
Geschlechtsunterschiede sind nicht nur in verschiedenen Teilbereichen der klinischen Medizin bekannt, sondern auch in der Rechtsmedizin. Wir präsentieren in dem vorliegenden Artikel eine graphische Übersicht über die Geschlechtsunterschiede bei Tötungsdelikten bezüglich des Ereignisortes, der Täterschaft und der Gewaltform aus dem Fallgut des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich über einen Zeitraum von drei Jahren. In einem überwiegenden Anteil der Fälle fanden die Tötungsdelikte an Frauen im häuslichen Umfeld statt (80%, versus bei den Männern lediglich 32%), die Täterschaft war in über 2/3 der Fälle der aktuelle oder der Ex-Partner, bzw. Ehemann (67%, versus bei Männern als Opfer 5%) und knapp die Hälfte der getöteten Frauen verstarb infolge eines Schusses (42%, versus bei Männern nur 21%). Unsere Ergebnisse korrespondieren mit früheren und aktuellen Studien zu geschlechtsspezifischen Charakteristika von Gewalt gegen Frauen. Sie verdeutlichen sowohl die Relevanz als auch die Dringlichkeit eines Ausbaus der Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.


Interdisziplinäre Beurteilung inkriminierter Bild-, Video und Audiodaten
Für die Identifizierung unbekannter Personen am Forensischen Institut Zürich (FOR)
Von Ralph Mülli
Durch die zunehmende Zahl an Überwachungsanlagen im privaten und öffentlichen Bereich sowie die grosse Verbreitung von Smartphones in der Bevölkerung werden immer häufiger Straftaten dokumentiert und oftmals – zumindest für eine gewisse Zeit – gespeichert. Bei diesen Bild- und Audiodaten handelt es sich im forensischen Kontext um inkriminierte digitale Daten. Diese bieten im optimalen Fall zahlreiche Informationen zum fraglichen Sachverhalt und allenfalls zur unbekannten Täterschaft, die zur Ermittlung und späteren Überführung ebendieser führen können.

 

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Kriminalistik Campus

Redaktion: Prof. Dr. Sigmund P. Martin, LL.M. (Yale), Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Kriminalpolizei, Wiesbaden

Untersuchung zur Grenzgeschwindigkeit von Glas
Von Jan Emanuel Martin und Roland Hoheisel-Gruler
Glas ist nicht nur ein weit verbreiteter Werkstoff, gerade bei Schusswaffenstraftaten gilt es häufig, beschossene Scheiben kriminaltechnisch zu untersuchen. Eines der Ziele, das mit der Untersuchung von Glas im Zusammenhang mit einem Beschuss verfolgt wird, ist darin zu sehen, dass eine Einschätzung zu einer möglichen Gefährdung von Personen, anderer Lebewesen oder Sachen, die sich bei Beschuss hinter den betroffenen Glasscheiben befanden, gegeben werden kann. Diese Einschätzungen sind dabei meist von strafrechtlicher Relevanz, da sie für die konkrete Bewertung eines Tatvorwurfes erheblich sein können. Hierzu ist es auch notwendig, ungefähr die minimale Geschwindigkeit eines Flugobjektes zu kennen, die dieses benötigt, um durch den betroffenen Scheibentyp zu dringen. Diese Geschwindigkeit wird als Grenzgeschwindigkeit bezeichnet.

Evaluierung der Straftatbestände des Menschenhandels, §§ 232 ff. StGB
Was sind die ungelösten Probleme – auch nach Anpassung der Straftatbestände – und kam es zu einer Verbesserung der Praxistauglichkeit?
Von Alexander Nielitz
Im Aufsatz wird der Frage nachgegangen, ob die Reform der §§ 232 ff. StGB, die 2016 aufgrund der Richtlinie 2011/36/EU erfolgt ist, ihren Zweck erfüllen konnte und ob es zu einer Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels sowie einer größeren Praxistauglichkeit der Vorschriften gekommen ist. Weiterhin werden die Problematik des Personalbeweises, die Gesetzesänderung und die kritischen Punkte der alten Fassung aufgegriffen, um die Fragestellung von allen Seiten zu beleuchten. Neben der Auswertung von vorhandener Literatur wurden Interviews mit einem Ersten Kriminalhauptkommissar, einem Staatsanwalt und einem Richter geführt, die über praktische Erfahrungswerte, aus teilweise 17 Jahren der Beschäftigung mit diesem Deliktsbereich, verfügen.

 

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Recht aktuell

Tatprovokation durch einen Verdeckten Ermittler
1. Das Gebot des fairen Verfahrens gem. Art.2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK wird durch eine polizeiliche Tatprovokation verletzt, wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch einen Amtsträger oder eine von diesem geführte Vertrauensperson in einer dem Staat zurechenbaren Weise zu einer Straftat verleitet wird.
2. Bei der Differenzierung zwischen einer rechtmäßigen Infiltrierung durch eine Ermittlungsperson und der (konventionswidrigen) Provokation einer Straftat ist maßgeblich, ob auf den Täter Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. Dabei ist unter anderem darauf abzustellen, ob die Ermittlungsperson von sich aus Kontakt zu dem Täter aufgenommen, ihr Angebot trotz anfänglicher Ablehnung erneuert oder den Täter (beim Handeltreiben mit Drogen) mit den Marktwert übersteigenden Preisen geködert hat.
3. Eine Straftat kann auch dann auf einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation beruhen, wenn sich der Täter aufgrund der Einwirkung des Verdeckten Ermittlers auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung einlässt oder hierdurch seine Bereitschaft wecken lässt, eine Tat mit einem erheblich höheren Unrechtsgehalt zu begehen
4. Bei einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation durch einen Verdecken Ermittler steht einem Strafverfahren ein von Amts wegen zu beachtendes – Verfahrenshindernis entgegen. Einer Verfahrensrüge bedarf es für die Geltendmachung eines solchen Verfahrenshindernisses – anders als für die Geltendmachung eines Beweisverwertungsverbots – nicht.

BGH, Urt. v. 16.12.2021
1 StR 197/21
jv


Rücktritt vom Mord bei mehreren Beteiligten
1. (Auch) In den Fällen des Rücktritts vom Versuch bei mehreren Beteiligten gem. § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB ist die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung entscheidend (sog. Rücktrittshorizont).
2. Geht ein Tatbeteiligter noch von der Gefahr der Tatvollendung durch den oder die Mittäter aus, erfordert der Rücktritt (in Entsprechung zu der geforderten Rücktrittsleistung beim beendeten Versuch des Alleintäters) ein auf die Erfolgsvereitelung gerichtetes aktives Tun.

BGH, Urt. v. 17.3.2022
4 StR 223/21
bb

 

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Literatur

Eine zuverlässige Handreichung
Klaus Schönenbroicher, Versammlungsgesetz Nordrhein-Westfalen. Kurzkommentar, 2022, Verlag Reckinger, Siegburg, 179 S., 29,90 Euro
Das Versammlungsgesetz Nordrhein- Westfalen (VersG NRW) trat am 7. Januar 2022 in Kraft. Bereits im März 2022 erschien der Kurzkommentar von Prof. Dr. Klaus Schönenbroicher, der als Leitender Ministerialrat in der Polizeiabteilung des Innenministeriums NRW ein hervorragender Kenner der Materie ist. Der Autor will aber mit seinen Erläuterungen des Gesetzes „keinen Anspruch auf erschöpfende wissenschaftliche Untersuchung erheben“, sondern eine „Hilfestellung für die versammlungsrechtliche Praxis“ geben (Einleitung, S. 13). In seinem Vorwort geht er darauf ein, dass der Gesetzgeber 15 Jahre gebraucht hat, um dem Land ein eigenes Versammlungsgesetz zu geben. Die Möglichkeit dazu bestand bereits nach Änderung der Gesetzgebungskompetenz im Grundgesetz im Rahmen der Föderalismusreform im Jahr 2006. Dazu merkt Schönenbroicher an: „Ein Ruhmesblatt kraftvoller ,Länderstaatlichkeit‘ im Sinne des Art. 1 unserer Landesverfassung ist das vermutlich nicht. Im Gegenteil: Wenn die föderale Gliederung der Länder in Deutschland auf dem Felde der Gesetzgebung überhaupt noch einen Sinn haben sollte, dann sollte er wohl darin zu finden sein, Gesetzgebungsräume auszuschöpfen, die der Verfassungsgeber des Grundgesetzes eröffnet.“ Nach Auffassung des Autors ist ein Grund dafür die Einengung der Gestaltungsräume der Parlamente als Gesetzgeber durch die Rechtsprechung. Es könnte aber auch sein, dass andere Gesetzgebungsvorhaben den Landesregierungen dringlicher waren und dass man gut mit der Weitergeltung des (Bundes-) Versammlungsgesetzes leben konnte.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. In der Einleitung (S. 13–27) wird die Entstehungsgeschichte des Gesetzes dargestellt. Ausführlich geht der Autor auf die gutachterlichen Stellungnahmen der Sachverständigen für den Innenausschuss des Landtags ein. Bei den anschließenden Erläuterungen der §§ 1 bis 35 VersG NRW wird zunächst die jeweilige „Amtliche Begründung“ aus dem Gesetzentwurf der Landesregierung wiedergegeben. Das ist für einen Gesetzeskommentar ungewöhnlich. Denn in den meisten Fällen geraten nach Verabschiedung eines Gesetzes die Gesetzesmaterialien in Vergessenheit. Das trifft insbesondere dann zu, wenn sich die Einzelbegründung im Gesetzentwurf auf die Wiedergabe des Inhalts des jeweiligen Paragrafen mit anderen Worten beschränkt und der federführende Parlamentsausschuss dem Gesetzentwurf ohne weitere Auseinandersetzungen mit dem Inhalt zugestimmt hat. Wenn der Gesetzentwurf aber ausführlich begründet wurde, es dazu erfolgreiche Änderungsanträge gab und der zuständige Ausschuss vor der Beschlussfassung Sachverständige angehört hat, sind die Gesetzesmaterialien für den Rechtsanwender bei der Auslegung des Gesetzes hilfreich.
Die Gesetzesmaterialien zum VersG NRW sind eine solche hervorragende Quelle. Die Entscheidung des Autors für den Abdruck ist deshalb sehr zu begrüßen. Die Zitate aus der Landtagsdrucksache werden im Druck kenntlich gemacht. In den anschließenden Erläuterungen greift der Autor immer wieder Argumente aus der rechtspolitischen Debatte im Innenausschuss und aus den Stellungnahmen der Sachverständigen auf. Er berücksichtigt auch die aktuelle Rechtsprechung zum (Bundes-)Versammlungsgesetz und schildert einzelne Beispiele und Erfahrungen aus der Polizeipraxis. Die Anwendung des komplexen Gesetzes wird damit auch für den ungeübten Rechtsanwender leichter. Deshalb ist der Kurzkommentar auch eine geeignete Studienliteratur für den Bachelorstudiengang Polizei an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (HSPV NRW). Wegen der konzentrierten Darstellung des VersG NRW, die auf das Wesentliche beschränkt ist, eignet sich der Kommentar auch für die Kreispolizeibehörden bei der Bearbeitung von Versammlungsanmeldungen, der rechtlichen Beurteilung der Lage sowie in versammlungsrechtlichen Streitverfahren vor den Verwaltungsgerichten. Für die kriminalpolizeilichen Ermittlungen ist insbesondere § 27 VersG NRW von Bedeutung. In der Vorschrift wird die Strafbarkeit von Verstößen gegen die strafbewehrten Normen des Versammlungsgesetzes bestimmt. In NRW sind die Kriminalinspektionen „Polizeilicher Staatsschutz“ in der Direktion Kriminalpolizei in den Polizeipräsidien, die zu Kriminalhauptstellen bestimmt wurden, für die Ermittlungen zuständig. Kriminalbeamtinnen und -beamte, die bei größeren Demonstrationseinsätzen im Einsatzabschnitt „Strafverfolgung“ für die Beweissicherung zuständig sind, sollten mit den relevanten Regelungen des VersG NRW vertraut sein. Tatbestände wie das „Waffen- und Gewalttätigkeitsverbot“ (§ 8 VersG NRW), das „Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot“ (§ 17 VersG NRW) und das „Gewalt- und Einschüchterungsverbot“ (§ 18 VersG NRW) sind nicht unproblematisch. Der Kommentar von Schönenbroicher ist auch hier eine zuverlässige Handreichung.
Reinhard Mokros

Überzeugende und an den Bedürfnissen von Theorie und Praxis orientierte Kommentierung
Kindhäuser/Hilgendorf, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 9. Aufl. 2022, Nomos Verlag, Baden-Baden, 1517 S., brosch., 36 Euro.
Die vorliegende Neubearbeitung des Kommentars bringt das Werk auf den Stand Sommer 2022. Kommentiert werde die Modernisierung des Schriftenbegriffs (§ 11 Abs. 3 StGB), der neue Straftatbestand „Verletzung des Intimbereichs durch Bildaufnahmen“ (§ 184k StGB) und Neuerungen in § 201a StGB. Ausführlich gewürdigt wird das Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität. Ein weiterer Komplex der Kommentierung bezieht sich auf das Gesetzespaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder (einschl. Cybergrooming). Weitere Novellen – z. B. die Strafbarkeit sog. Feindeslisten (§ 126a StGB) – waren zwar bei Redaktionsschluss noch nicht verkündet, wurden aber erfreulicherweise in der Neuauflage bereits berücksichtigt. Entsprechendes gilt für die Erweiterung des § 238 StGB um das sog. Cyberstalking und die neue Strafnormgegen das Betreiben krimineller Handelsplattformen im Internet (§ 127 StGB). Mehr Aktualität kann von einem gebundenen Werk nicht erwartet werden. Die Erläuterungen der neuen Bestimmungen sind wie auch im Übrigen präzise und gut verständlich. Auf kritische Punkte (z. B. hinsichtlich des Bedürfnisses für eine neue Strafnorm) wird zumindest hingewiesen (s. etwa § 184k Rn. 1). Literatur und Rechtsprechung wurden – wie Stichproben gezeigt haben – aktualisiert und umfassend eingearbeitet.
Ziel des Kommentars ist es ausweislich des Vorworts zur ersten Auflage, die Vorschriften des StGB im Sinne eines Kurzlehrbuchs zu erläutern. Dieses didaktische Konzept wird auch in der aktuellen Auflage konsequent umgesetzt. In der Ausbildung – insbesondere im Jurastudium und im Rahmen der (Fach-) Hochschulausbildung der Polizei –, aber auch in der Praxis spielen bestimmte Delikte kaum eine Rolle. Diesem Aspekt trägt die gelungene Schwerpunktsetzung Rechnung. Ein großer weiterer Pluspunkt liegt in der Verknüpfung von Kommentar und (Methodik-) Lehrbuch (s. beispielsweise das Prüfschema zum Diebstahl, § 242 Rn. 3).
Auch in formaler Hinsicht lässt das Werk kaum Wünsche offen. Optische Hervorhebungen – z. B. Leitbegriffe in Fettdruck – erleichtern den Zugriff auf das gesuchte Problem.
Fazit: Insbesondere für Studierende an den Universitäten, aber auch an den Ausbildungseinrichtungen der Polizei bietet das Werk eine überzeugende und an den Bedürfnissen von Theorie und Praxis orientierte Kommentierung des StGB. Das Preis- Leistungsverhältnis ist hervorragend.
Prof. Dr. Jürgen Vahle, Bielefeld


Verlag C.F. Müller

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